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Die blaue Blume * Eine Kurzgeschichte von Luisa Francia

Die blaue Blume aus Weidefrau und Wiesenkönigin



Nicht irgendeine Blume, irgendeine Pflanze ist es. Die Blaue Blume muss es sein. Sie kommt in Gedichten und Liedern vor. In der Romantik wurde sie besungen und beschwärmt, ohne dass man so recht weiss, was das überhaupt für eine Blume ist. Als Kind habe ich mich gewundert. Es gibt doch soviele Blumen. Welche von den vielen ist «die blaue»?

Wegwarte? Enzian? Wiesensalbei? Gewitterblumen? Vergissmeinnicht?

In der Kindheit begreift man diese Sehnsucht gar nicht, denn alles ist da. Das Sich-verlieren-im-Augenblick, die Freude, der Zorn, die Enttäuschung, die Trauer. Alles geschieht direkt. Verbindungen entstehen, ohne dass Verbote und Zweifel auftauchen – wenn alles gut geht. Doch dann wird man erwachsen und weiss, dass das Leben auch Biegen und Brechen ist. Die Sehnsucht beginnt zu wachsen. Könnte ich doch ins Vergessen fallen und wieder ganz im Augenblick sein, einfach sein! Mit allem verbunden. Ohne Zweifel und Misstrauen.


Die Wildnis der Kindheit wurde geordnet, der Feldweg asphaltiert, die Wiese bebaut, der Wald gerodet und mit Nutzholz zum Industrieforst gemacht. Der Sumpf wurde trockengelegt, eine Strasse hindurchgebaut. Hier schlüpfen keine kleinen Schlangen mehr aus dem Ei, wie ich es einst mit den Kindern beobachten konnte. Keine Auerhenne brütet,

es gibt hier keine Auerhennen mehr.

Also, auf in ferne Länder, wo die Menschen so arm sind, dass sie sich nicht leisten können, ihre Wälder zu asphaltieren, ihre bunten Wiesen zu bebauen und aus ihren Gärten Parkplätze zu machen. Wie einfach diese Menschen leben! Erinnert es nicht an die Kindheit, als auch wir barfuss in den Wald liefen. Wie gut das Essen schmeckt, wenn man sich angestrengt hat, wenn das Wasser geschleppt, das Holz gesammelt, die Tannenzapfen in einen Sack gefüllt werden mussten. Ja, das einfache Leben ist schön – wenn wir in die Welt der Fernseher, der Autos und der geheizten Wohnungen zurückkehren können. Die einfachen Menschen sollen ihre naturverbundene Lebensweise bewahren, dass wir beides geniessen können! Und jetzt noch eine Erleuchtung! Die Ekstase des Herzens. Die blaue Blume. Aus der scheinbaren Sicherheit des zivilisierten Lebens, aus der Gewohnheit, keinen Mangel zu leiden und alles bestellen, alles herbeirufen und kaufen zu können, entsteht dieser Hauch der Erinnerung, dass es einmal anders war. Berühmte Menschen, reiche Menschen schwärmen fast immer von der Zeit, als sie noch arm waren, als das Leben noch hart war. Denn da gab es Aufregung, Sehnsucht und Hunger, Erfüllung und Vergnügen. Die Behausung war einfach, Geld war knapp. Vermisste man es? Doch, sicher. Alle träumten davon, reich zu sein. Doch ging es um den Traum und nicht um den Reichtum. Das Träumen war eben das Schönste. Dann kam die Fee und sagte: Ich erfülle dir deinen Herzenswunsch. Da sank der Wald ins Vergessen, die einfachen Vergnügen wurden von anspruchsvollen Events abgelöst. Statt in der Jugendherberge oder im Zelt musste jetzt im Luxushotel abgestiegen werden. Wurde es Nacht, ging man nicht hinaus in den Wald, um den Uhu zu hören oder die Sterne zu sehen, sondern in feine, teure Restaurants. Zum Tanzen in die Disco. Wenn schon keine Verbindung möglich ist, dann wenigstens benebelt sein. Alles war noch da, die Geister, die Versprechen, das Murmeln, der Gesang des Schattenvogels, die vielen Schichten der Wirklichkeit. Doch schoben sich Termine und wichtige Besprechungen davor. Zeit wurde knapp, dann kostbar, dann lief sie davon. Kostbare Uhren erzählten vom Verschwinden der Zeit und davon, dass man sich beeilen musste. Kostbare Autos überbrückten die Entfernungen, die Wildnis verschwand. Gab es sie überhaupt noch? Es gab die Sehnsucht. Scheinbar im Luxus lebte man doch in Gefangenschaft.

Ich möchte meine Liebsten im Wald treffen. Blödsinn, die gibt es gar nicht. Es gibt keine Geister, keine Göttinnen, keine Feen und Elfen, keine Kobolde. Die sterben mit der Kindheit und danach sorgt die Vernunft dafür, dass wir nicht aus der Zivilisation fallen. Wach auf, du bist jetzt erwachsen. Die Träume der Kindheit sind begraben. Jetzt geht’s nur noch ums Geldverdienen und ums Gegenteil: Bloss nicht abstürzen. Manchmal machen wir blau. Warum eigentlich blau? Da entsteht Raum. Manchmal sind wir blau, wir wechseln die Ebenen. Wer blau ist, darf sich endlich fallen lassen und in die Traumzeit segeln.

Immer ist da die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Eine blaue Blume steht für diese Kraft. Blau – die Öffnung des engen Raums in endlose Weite, ins Blaue eben. Die Blume ist verwurzelt, wächst, blüht, öffnet sich und zeigt ihr Inneres. Die blaue Blume ist die Schnittstelle der Zivilisation mit der Wildnis. Wo die Vernunft und die Sehnsucht des Herzens zusammenkommen. Die blaue Blume ist die Kraft der Göttin in der Natur. Man kann sie nicht kaufen, nicht bestellen und abholen oder liefern lassen. Sie öffnet sich nur denjenigen, die sie mit allen Fasern ihres Herzens wollen. Die sich auf den Weg machen und erwartungsfroh auf alles gefasst sind. Die mit allen Wassern gewaschen, von Düften umgeben, vom Wind zerzaust, von der Erde geküsst sind. Vielleicht steht sie da tatsächlich am Wegrand als Lungenkraut, als Wegwarte in der Wiese. Als Enzian hoch oben auf einem Berg. Am Bach als Vergissmeinnicht. Doch die blaue Blume ist aus anderem Stoff gemacht. Sie schwebt über den Blüten und Gräsern. Sie öffnet sich in den Windungen des Hirns, verströmt ihren Duft in der Erinnerung, wird zum Gesang des Windes und der Wolken.


Schon zieht sie einen vom Weg fort zwischen die Felsen in die Trugbilder der aufsteigenden Hitze. Sie holt Gerüche, Musik, Gelächter aus der Erinnerung ins Jetzt. Auf dem Rücken liegend, folgen die Augen dem Tanz der Wolken und der Körper öffnet sich in einem tiefen Aufatmen. Ist das meine Fantasie oder steht sie da und lächelt? Gibt es nur eine Wirklichkeit oder ist alles viel komplexer, viel wandelbarer? Gerade ist es noch eine Wolke, schon ist es ein zorniger Sturm, donnernde Stimme, Vorahnung grosser Schrecken. Gerade war da noch der Weg, schon sehen alle Felsen gleich aus und dort gähnt ein Abgrund. Wäre jetzt ein asphaltierter Weg, ein Wirtshaus, ein Auto nicht schön? Nein. Schon ist die Angst überwunden, weiter geht’s, hinauf, hinüber zu den vielfältigen Entwürfen, wie es weitergehen könnte, auf diesem Weg, überhaupt im Leben. Da ist sie, die blaue Blume, der Kuss der Weidenfrau. Da steht sie, die Wiesenkönigin. Da springen die Holzweiblein und die Felsenkobolde. Das ist ein zartes Gewebe. Da darf kein Mobiltelefon läuten, kein Auto aufhäulen. Die Welt hält den Atem an, wenn der Duft der blauen Blume durch die Luft schwebt. Die blaue Blume kann nicht gepflückt, getrocknet, gepresst, verarbeitet werden. Im Augenblick erscheint sie. Ihre Kraft ist heilsam. Ihre Wirkung von unschätzbarem Wert. Doch gibt es kein Rezept, wie sie gefunden werden kann. Niemand kann sie benutzen, besitzen, zu Geld machen. Wo sie am gierigsten gesucht wird, erscheint sie nicht. Wer nach ihr greift, greift ins Leere.


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